Der Mann der Bäume pflanzte — Jean Giono — Erzählung — 1953

Deutsch Version des vollständigen Text eines Jean Gionos Novelle.

Der Mann der Bäume pflanzte

Original :
In Arboretum de Villardebelle
Nouvelle.
A aussi été publié dans la Revue Forestière Française, 1973;
Et dans Le Sauvage, No 15/16 de juillet 1974.
Jean Giono,
 1954
Übersetzung von Tina Walpen
 2007

 

 

Jean Giono schrieb die folgende Erzählung im Jahr 1953. Obwohl in Frankreich nur wenig
bekannt, wurde sie trotzdem in 13 Sprachen übersetzt und in der ganzen Welt verbreitet. Sie wurde so
geschätzt, dass sehr oft Fragen gestellt wurden über die Person Elzéard Bouffier und über
den Wald von Vergons. Darum ist das Interesse für den Text wieder erwacht. Auch wenn der Mann, der
die Eichen pflanzte, ein Produkt der Fantasie des Autors ist, bemühte man sich in dieser Region seit
1880 sehr effektiv um eine Wiederaufforstung. Vor dem ersten Weltkrieg wurden hundert Tausend Hektaren Wald
aufgeforstet, hauptsächlich mit der österreichischen Schwarzkiefer und der europäischen
Lärche. Heute stehen hier schöne Wälder, die die ganze Landschaft sowie den Wasserhaushalt
nachhaltig verändert haben.

J. Giono schrieb 1957 dem Konservator für Wasser und Wald von Digne, Herrn Valdeyron,
folgenden Brief :

Sehr geehrter Herr,

Leider muss ich Sie enttäuschen, Elzéard Bouffier ist eine erfundene Person. Mein Ziel war es, die
Liebe zu Bäumen oder besser die Liebe zum Pflanzen von Bäumen zu fördern. Das ist seit jeher
eine meiner liebsten Ideen. Misst man die Sache am Resultat, so ist das Ziel durch diese erfundene
Person erreicht worden. Der Text, den Sie in Trees & Life gelesen haben, wurde ins Dänische,
Finnische, Schwedische, Norwegische, Englische, Deutsche, Russische, Tschechische, Ungarische,
Spanische, Italienische, Jiddische und Polnische übersetzt. Ich habe die Rechte für alle diese
Veröffentlichungen kostenlos abgetreten. Ein Bürger der USA besuchte mich kürzlich und bat mich
um die Rechte, hundert Tausend Exemplare gratis in den USA verteilen zu können. Natürlich habe
ich zugesagt. Die Universität Zagreb hat eine Übersetzung ins Serbokroatische gemacht.
Es ist einer der Texte, auf die ich besonders stolz bin. Er bringt mir keinen Cent ein, und darum
wohl erreicht er genau das, wofür er geschrieben wurde.

Falls es Ihnen möglich ist, möchte ich mich gern mit Ihnen treffen, um Genaueres zum Gebrauch
des Textes zu besprechen. Ich glaube, es ist Zeit für eine ‚Politik der Bäume‘, wenn auch das Wort
Politik schlecht zu passen scheint.

Herzlichst

Jean Giono


Der Mann
der Bäumed
Pflanzte

Um aussergewöhnliche Qualitäten eines menschlichen Wesens erkennen zu
können, muss man das Glück haben, sie während vielen Jahren beobachten zu
können. Falls das Werk ohne jeden Egoismus und die Idee von einzigartiger
Grossmut ist, wenn es ganz sicher ist, dass nirgends nach Entschädigung
gesucht wird und erst noch sichtbare Spuren auf der Erde hinterlassen werden,
dann begegnet man wirklich einem unvergesslichen Charakter.

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Vor etwa vierzig Jahren unternahm ich eine lange Wanderung in der uralten
Alpenregion, die sich in die Provence hinein erstreckt, einer Touristen völlig
unbekannten Gegend.

Im Süden wird sie durch den Lauf der Durance zwischen
Sisteron und Mirabeau begrenzt, im Norden von der Drome von der Quelle bis
nach Die, und im Westen von den Ebenen der Grafschaft Venaissin und den
Vorgebirgen des Mont Ventoux. Sie enthält den ganzen nördlichen Teil des
Departements der Basses-Alpes, den Süden der Drome und eine kleine Enklave
der Vaucluse.

Zur Zeit als ich zu meiner langen Wanderung aufbrach, war das eine nackte
und monotone Landschaft auf 1200 bis 1300 Metern Höhe, nur von wildem
Lavendel bewachsen.

Ich überquerte dieses Land in der ganzen Breite und
nach drei Tagesmärschen befand ich mich in einer einzigartigen Einöde. Ich
nächtigte an der Seite der Überreste eines kleinen verlassenen Dorfes. Seit
dem Morgen hatte ich kein Wasser mehr und ich musste unbedingt danach
suchen. Bei diesen Ruinen, die wie ein altes Wespennest aussahen, musste es
doch in alter Zeit eine Quelle oder einen Brunnen gegeben haben. Eine Quelle
war da, aber völlig ausgetrocknet. Die fünf oder sechs von Wind und Wetter
zerfressenen Häuser und die kleine Kapelle mit dem eingestürzten Turm waren
zwar angeordnet wie die belebten Dörfer, aber alles Leben war daraus
verschwunden.

 

Obwohl es ein sonniger Junitag war, blies der Wind mit einer
unerträglicher Brutalität über die ungeschützte und gegen den Himmel offene
Gegend. Er fauchte um die Überreste der Häuser wie ein Raubtier, das beim
Fressen überrascht wird.

Ich musste das Lager aufgeben. Fünf Stunden weiter
hatte ich immer noch kein Wasser gefunden und nichts gab mir Hoffnung es zu
finden. Überall die gleiche Trockenheit, die gleichen verholzten Sträucher. In
der Ferne schien ich eine kleine schwarze aufrechte Silhouette zu sehen. Ich
dachte, es sei ein einzelner Baumstrunk. Auf gut Glück lief ich auf ihn zu. Es
war ein Hirte, neben ihm lagen etwa dreissig Schafe auf der heissen Erde.

Er gab mir aus seiner Flasche zu trinken und führte mich ein wenig später zu
seinem Haus in einer Bodensenke der Plateaus. Er holte sein ausgezeichnetes
Wasser aus einem natürlichen sehr tiefen Erdloch, über das er eine einfache
Winde angebracht hatte.

 

Dieser Mann sprach nicht viel. Das trifft man oft an bei
Menschen die alleine leben. Aber ich fühlte, dass er sich seiner selbst sicher
war. Das war ungewöhnlich in diesem kargen Land. Er wohnte nicht in einer
Hütte, sondern in einem Haus aus Stein, dem man ansah, wie er mit seinen
Händen die Ruine, die er angetroffen hatte, wieder instand gestellt hatte. Das Dach war solide und wasserdicht. Der Wind, der auf die Ziegel traf, machte
einen Lärm wie das Rauschen am Meeresstrand.

Sein Haushalt war geordnet,
die Wäsche gewaschen, der Holzboden gewischt, sein Gewehr geölt. Auf dem
Herd kochte eine Suppe. Jetzt bemerkte ich, dass er frisch rasiert war, und dass
alle Knöpfe gut angenäht waren. Seine Kleider waren in der feinen Art
ausgebessert, die den Flick unsichtbar macht.

Er hiess mich, die Suppe mit ihm
zu teilen. Als ich ihm meinen Tabaksbeutel anbot, sagte er mir, er rauche
nicht. Sein Hund war wachsam ohne unterwürfig zu sein und so still wie sein
Meister.

 

Wir kamen bald überein, dass ich die Nacht hier verbringen würde. Das
nächste Dorf war mehr als eineinhalb Tagesmärsche entfernt. Darüber hinaus
kannte ich den Charakter der wenigen Dörfer dieser Region. Sie befinden sich
weit voneinander entfernt an Abhängen im Buschholz der Steineichen am
äussersten Ende von befahrbaren Strassen. Die Einwohner sind Köhler. Es sind
keine angenehmen Wohnorte. Die Familien sind Winter wie Sommer in diesem rauhen Klima aneinander gebunden und leben ihren Egoismus im Kleinen aus.
Der unbewusste Ehrgeiz zeigt sich in der dauernden Sehnsucht, dem Ort zu
entfliehen.

Die Männer transportieren die Holzkohle mit ihren Lastewagen in
die Stadt, dann kehren sie wieder zurück. Auch solide Charakter zerbrechen
unter solch dauernd wechselnden Dasein. Die Frauen hegen macherlei Groll.
Bei allem und jedem gibt es Konkurrenz, beim Kohleverkauf wie bei der
Kirchenbank, sie streiten um die Tugenden und die Laster, in einer Mischung
ohne Ende.

Der Hirte rauchte nicht, aber er holte einen kleinen Sack und verteilte einen
Haufen Eicheln auf dem Tisch. Aufmerksam kontrollierte er eine nach der
anderen und trennnte die Schlechten von den Guten. Ich rauchte meine Pfeife
dabei und boot ihm an, zu helfen. Das ist meine Angelegenheit, erwiderte er.
Und wirklich, als ich seine Sorgfalt dabei sah, bestand ich nicht mehr darauf.
Das war unsere ganze Unterhaltung. Als er einen ansehnlichen Haufen auf der
Seite der Guten hatte, fing er an, sie in Einheiten von Zehn zu zählen. Dabei
schaute er sie noch genauer an und legte die kleinen oder leicht eingerissenen
weg. Als er so hundert perfekte Eicheln vor sich hatte, hielt er inne und wir
gingen schlafen.

Die Gesellschaft dieses Mannes erfüllte mich mit Frieden, darum bat ich ihn am
nächsten Morgen, mich den ganzen Tag bei ihm ausruhen zu dürfen. Er fand
das ganz normal, besser gesagt, er machte den Eindruck, als ob ihn überhaupt
nichts stören könnte. Dieser Ruhetag war für mich nicht zwingend nötig, aber
ich war neugierig und wollte mehr wissen. Er liess seine Truppe heraus und
führte sie auf eine Weide. Vorher hatte er den Sack mit den sorgfältig
ausgewählten und gezählten Eicheln in einem Eimer Wasser getränkt.

 

Ich
bemerkte, dass er anstelle eines Steckens einen dicken ungefähr 150 cm
langen Eisenstab mitnahm. Wie ein Spaziergänger folgte ich ihm nach. Die
Schafweide befand sich in einer Mulde. Er liess die kleine Truppe in der Obhut
seines Hundes und stieg wieder zu mir herauf. Ich befürchtete schon, er werde
mir meine Neugierde vorhalten, aber im Gegenteil, ich stand zufällig auf
seinem Weg und er lud mich ein, ihn zu begleiten, falls ich nichts Besseres zu
tun hätte. Dann stieg er 200 Meter weiter auf.

Am Ziel angelangt, fing er an,
seinen Eisenstab in die Erde zu bohren. Er machte ein Loch, versenkte eine
Eichel und verschloss das Loch wieder. Er pflanzte Eichen! Ob dieses Land ihm
gehörte? Nein, sagte er. Ob er wisse, wer der Besitzer sei? Er wusste es nicht.
Vielleicht nahm er an, es sei Gemeindeboden oder die Besitzer kümmerten sich
nicht darum? Nein, das war ihm völlig egal. So pflanzte er an dem Tag hundert
Eicheln mit grösster Sorgfalt.

 

Nach dem Mittagsmahl nahm er die Arbeit wieder auf. Da ich eindringlich
fragte, erzählte er mir ein wenig. Er pflanzte nun seit drei Jahren Bäume in
dieser Einöde. Er hatte bisher schon hundert Tausend gepflanzt. Davon trieben
etwa zwanzigtausend aus. Er rechnete damit, die Hälfte davon durch Nagetiere
oder durch Unvorhergesehenes zu verlieren. Das ergab, dass dort, wo vorher
Wüste war, nun zehntausend Eichen wuchsen.

In diesem Moment fragte ich mich wie alt dieser Mann wohl sei. Er musste
über 50 Jahre alt sein. Er heisse Elzeard Bouffier und sei 55 jährig, sagte er.
Im Tal unten hatte er einen Bauernhof besessen, seinen Lebensplan realisiert,
doch dann den einzigen Sohn und später die Frau verloren. Er zog sich zurück
in die Einsamkeit und fand Gefallen am langsamen Lebensrhythmus mit seinen
Schafen und dem Hund. Er hatte erkannt, dass das Land am Mangel von
Bäumen zugrunde gehen würde. Und da er keine besonderen Aufgaben hatte,
dachte er, diesen Zustand zu ändern.

Da ich damals trotz meiner Jugend als
Einzelgänger lebte, verstand ich es mit Behutsamkeit mit einsamen Leuten in
Kontakt zu kommen. Trotzdem machte ich einen Fehler. Gerade eben wegen
meiner Jugend stellte ich mir die Zukunft vor und sagte optimistisch: diese
Zehntausend Eichen werden in 30 Jahren ganz wunderbar dastehen. Er fand
nur, dass , wenn Gott ihm das Leben noch gewähre, er in 30 Jahren so viele
Bäume gepflanzt habe, dass diese Eichen darunter nur wie ein Tropfen im Meer
erscheinen würden.

übrigens studierte er auch schon die Aufzucht von Buchen
und hatte nahe seinem Haus eine Pflanzschule mit Bucheckern angelegt. Die
jungen Pflanzen, die er mit einem Gitter vor den Schafen geschützt hatte,
gediehen prächtig. Er dachte auch an Birken für diejenigen Standorte, wo
wenige Meter unter der Oberfläche Feuchtigkeit zu finden war.

Wir trennten uns am folgenden Tag.

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Im nächsten Jahr, 1914, war Krieg und ich wurde für fünf Jahre eingezogen. Ein Infanterist
kann kaum über Bäume nachdenken. Um ehrlich zu sein: die Geschichte hatte mich nicht allzusehr
beeindruckt. Ich hielt sie für ein Steckenpferd, so wie Briefmarkensammeln, und vergass sie.

Am Ende des Kriegs hatte ich eine kleine Abfindung erhalten und ich sehnte mich nach frischer Luft. Ohne
Plan – nur gerade aus dieser Sehnsucht heraus – nahm ich wieder den Weg zu diesen Einöden auf.

Das Land hatte sich nicht verändert. Allerdings bemerkte ich oberhalb des verlassenen Dorfes eine
Art grauer Nebel, der die Anhöhe bedeckte wie ein Teppich. Ich dachte wieder an den Hirten, der
Bäume pflanzte. Zehntausend Eichen brauchen wirklich viel Platz, sagte ich mir.

In den fünf Jahren hatte ich zu viele Menschen sterben sehen, um mir nicht vorstellen zu
können, dass Elzeard Bouffier vielleicht gestorben war, so wie man mit zwanzig Jahren denkt, dass
50jährige schon alt sind und dem Tod schon nahe. Er war aber nicht tot, sondern sogar noch gut im
Saft. Er besass nur noch vier Schafe, dafür etwa hundert Bienenstöcke. Weil die Schafe seine
Pflanzungen gefährdeten, hatte er sich von ihnen getrennt. Er sagte, und ich konnte das sehen, dass er
sich überhaupt nicht um den Krieg geschert hatte, sondern weiter pflanzte ohne sich stören zu
lassen.

Die Eichen von 1910 waren nun zehn Jahre alt und grösser als er und ich, ein beeindruckender
Anblick. Ich war buchstäblich sprachlos, und wir verbrachten den ganzend Tag schweigend wandernd in
seinem Wald. Dieser war dreiteilig, 11 km lang und an der breitesten Stelle 3 km weit. Stellte man sich
vor, wie das alles aus den Händen und der Seele dieses Mannes entstanden war – und das ohne technische
Hilfsmittel – so verstand man, dass Menschen eine gottgleiche Macht haben können, nicht nur im
Zerstören.

Er hatte seine Idee verfolgt und die schulterhohen Buchen die sich so weit man sehen konnte,
ausgebreitet hatten, zeugten davon. Die Eichen standen dicht und hatten das Alter überschritten, wo
sie vom Wild gefährdet waren. Um diese Werk zu zerstören müsste das Schicksal schon zu einem
Wirbelsturm greifen. Er zeigte mir bewundernswerte Birkenhaine, die etwa 5 Jahre alt waren, das heisst von
1915, als ich in Verdun kämpfte. Sie wuchsen, zart und aufrecht wie junge Menschen, auf den
Böden, die, wie er richtig vermutet hatte, Feuchtigkeit direkt unter dem Boden enthielten.

Die Arbeit schien weiterzuwirken: obwohl er sich nicht darum kümmerte, sondern ganz einfach sein
Ziel verfolgte. Denn als ich ins Dorf zurückging, bemerkte ich rinnendes Wasser in Bachbetten, die
seit Menschengedenken trocken gewesen waren. Das war die schönste Kettenreaktion, die mir je zu
Gesicht kam. In uralten Zeiten hatten diese Bächlein Wasser geführt. Einige dieser trauirgen
Dörfer, von denen ich am Anfang sprach, waren auf den Stätten gallo-römischer Dörfer
gebaut worden. Es gab noch überreste und die Archäologen hatten sie ausgegraben und Angelhaken
gefunden an Orten, wo man im 20.Jahrhundert auf Zisternen angewiesen war.

Auch der Wind verteilt Samen und darum erschienen mit dem Wasser nun auch Kopf – und Trauerweiden,
Wiesen, Gärten, Blumen und eine gewisse Lebensfreude.

Die Veränderung geschah aber so langsam, dass sie ins Bewusstsein trat, ohne zu erstaunen. Die
Jäger, die in diese einsamen Gegenden aufstiegen um Hasen und Wildschweine zu jagen, hatten das
Spriessen der Bäume beobachtet, aber sie hatten dies den Launen der Natur zugeschrieben. Darum
störte niemand das Werk dieses Mannes. Hätte man etwas geahnt, wäre er zurechtgewiesen
worden. Er stand ausserhalb jeden Verdachts. Wer hätte sich im Dorf oder in der Verwaltung eine solche
Sturheit und Selbstlosigkeit ausmalen können?

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Seit 1920 besuchte ich Eleazard Bouffier jedes Jahr. Ich habe ihn niemals zweifeln sehen. Trotzdem, wer
weiss ob Gottes Hand im Spiel war? Ich zählte seine Misserfolge nicht, aber man kann sich vorstellen,
dass man für einen solchen Erfolg auch viele Widrigkeiten überwinden muss. Damit eine solche
Leidenschaft siegt, muss man mit der Hoffnungslosigkeit kämpfen können. Er hatte zum Beispiel
während eines Jahres zehn Tausend Ahornsamen gepflanzt und alle waren zugrunde gegangen. Im folgenden
Jahr liess er es sein zu Gunsten von Buchen, die sogar besser als die Eichen heranwuchsen.

Um sich ein klareres Bild von diesem aussergewöhnlichen Charakter zu machen, darf man nicht
vergessen, dass er ganz einsam lebte, so einsam, dass er gegen Ende seines Lebens gar nicht mehr sprach.
Oder vielleicht war es einfach nicht mehr notwendig?

1933 erhielt er Besuch eines verblüfften Forstmeisters. Dieser legte ihm nahe, ja kein Feuer zu
machen, um diesen ’natürlichen‘ Wald nicht zu gefährden. Der naive Mann sagte sogar, er sehe zum
ersten Mal einen Wald von alleine spriessen. Zu jener Zeit wollte er etwa 12 km von seinem Hause weg
Buchen säen. Um sich den Weg zu sparen, plante er, sich eine Steinhütte bei seiner Pflanzung zu
bauen. Immerhin war er da schon 65 Jahre alt. Und er baute sie wirklich im folgenden Jahr.

 

1935 erschien eine ganze Delegation der Verwaltung, um den “natürlichen” Wald zu
begutachten. Der Direktor der Abteilung Wald und Wasser war dabei, ein Abgeordneter und Fachleute. Man
verlor viele unnütze Worte. Es wurde beschlossen, etwas zu machen und glücklicherweise geschah
nichts, ausser dass man den Wald unter Schutz stellte und die Köhlerei verbot. Es war unmöglich,
nicht von der der Schönheit dieser jungen gesunden Bäume überwältigt zu werden, sogar
der Abgeordnete erlag dieser Pracht.

Unter den Förstern der Delegation war ein Freund von mir. Ich erklärte ihm
das Wunder. Eine Woche später gingen wir auf die Suche nach Eleazard
Bouffier und fanden ihn 20 km vom Ort der Inspektion an der Arbeit.

Der Förster war nicht umsonst mein Freund. Er kannte den Wert der Dinge und wusste zu schweigen.
Als Gastgeschenk hatte ich einige Eier mitgebracht und wir drei teilten unseren Imbiss miteinander und
betrachteten ein paar Stunden schweigend die Landschaft.

Dort wo wir hergekommen waren, waren die Bäume bereits 6-7 Meter hoch und ich erinnerte mich an den
Anblick im Jahre 1913: eine Wüste …  Die friedfertige und regelmässige Arbeit, die
frische Höhenluft, das karge Essen und vor allem die Heiterkeit der Seele verliehen dem alten Manne
eine fast feierliche Gesundheit. Er war ein Kämpfer Gottes und ich fragte mich, wieviele Hektaren er
noch mit Bäumen bepflanzen würde.

Vor seinem Aufbruch machte mein Freund nur eine kleine Anmerkung über die Beschaffenheit des
Bodens, ohne weiter darüber zu reden. Etwas später sagte er mir: Dieser Mann weiss mehr als Alle!
und nach etwa einer Stunde Fussmarsch hatte die Tragweite der Idee sein Innerstes erreicht: Er weiss viel
mehr als Alle. Er hat einen wunderbaren Weg zum Glück gefunden.

Dank diesem Förster blieb nicht nur der Wald sondern auch das Schicksal des Mannes beschützt.
Er ernannte drei Waldhüter für den Schutz bleute ihnen ein, sich niemals von den Köhlern mit
einer Flasche Wein bestechen zu lassen.

 

Nur im Jahr 1939 geriet das Werk in Gefahr. Damals wurden die Autos mit Holzvergasern betrieben und man
hatte nie genug Holz. Man begann, die Eichen von 1910 abzuholzen, aber sie waren so weit von jeder Strasse
entfernt, dass es sich nicht lohnte und man brach die Sache ab. Der Hirte hatte nichts davon erfahren, er
war 30 km weiter daran, seine friedliche Arbeit zu tun. Den Krieg ignorierte er wie 1914.

 

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Ich habe Eleazard Bouffier im Juni 1945 zum letzten Mal gesehen. Er war 78 Jahre alt. Ich wollte meine
einstige Wanderung wiederholen. Jetzt gab es trotz der Nachkriegszeit einen Bus zwischen dem Tal der
Durance und den Bergen. Weil das so schnell ging, erkannte ich die Landschaft meiner damaligen Wanderung
nicht mehr. Es schien mir auch, dass ich an ganz fremden Orten vorbeikam. Erst als ich den Namen eines
Dorfes hörte, wurde mir klar, dass ich mich schon mitten in der einstigen Einöde befand. In
Vergons stieg ich aus dem Bus.

1913 lebten in dem Weiler drei Personen. Es waren rauhe misstrauische Menschen, die von der Fallenjagd
lebten, moralisch und physisch Menschen aus der Vorzeit ähnlich. Brennesseln verschlangen die
verlassenen Häuser. Es sah hoffnungslos aus für sie, darum warteten sie nur auf den Tod und das
begünstigt keineswegs die Tugenden.

Aber jetzt war alles verändert, sogar die Luft. An Stelle der brutalen trockenen Winde blies nun
eine wohlriechende Brise. Von den Höhen tönte der Wind in den Wäldern wie murmelndes Wasser.
Und zu meinem Erstaunen hörte ich richtiges Wasser in ein Becken plätschern. Man hatte einen
reichlich fliessenden Brunnen gebaut und, was mich sehr berührte, eine Linde daneben gepflanzt. Sie
war etwa 4jährig und schön gewachsen, ein Symbol der Auferstehung.

 

Auch sonst sah ich in Vergons Spuren von Arbeiten, für die eine gehörige Portion Optimismus
nötig war. Die Hoffnung war also zurückgekehrt. Man hatte die Ruinen weggeräumt, die
verfallenen Mauern eingerissen und fünf Häuser neu gebaut. Der Weiler zählte schon 28
Einwohner, darunter vier junge Haushalte. Rund um die frisch verputzten Häuser sah ich Gärten, wo
nebeneinander angeordnet Gemüse und Blumen wuchsen, Kohl und Rosen, Lauch und Löwenmaul, Sellerie
und Anemonen. Man bekam direkt Lust, dort zu wohnen.

Von Vergons aus ging ich zu Fuss weiter. So kurz nach dem Krieg war unser Leben noch nicht in voller
Blüte, aber Lazarus war aus dem Grab gestiegen. An den Flanken der Berge erblickte ich kleine Felder
von Gerste und Roggen und im Tal das Grün von Wiesen.

Seit dieser Zeit hat es nur 8 Jahre gebraucht, um das Land ganz aufblühen zu lassen. Auf dem Platz
der Ruinen, die ich 1913 gesehen hatte, stehen jetzt richtige schön verputzte Bauernhöfe, die
Lebensfreude und Behaglichkeit ausstrahlen. Die alten Quellen bringen wieder Wasser. Sie werden gespiesen
vom Regen und Schnee, der von den Wäldern zurückgehalten wird. Man hat die Bäche kanalisiert
und bei jedem Bauernhof sieht man zwischen Ahornbäumen Brunnenbecken inmitten eines Teppichs frischer
Minze. Nach und nach werden die Dörfer aufgebaut. Einwanderer aus der Ebene oder von dort wo der
Boden teuer ist, haben sich niedergelassen und bringen Jugendfrische, Bewegung und Unternehmungslust mit.
Auf den Wegen sieht man gutgenährte Frauen und Männer, Buben und Mädchen, die lachen
können und ländliche Feste lieben. Zählt man die Eingewanderten zu der alten, kaum wieder zu
erkennenden Bevölkerung dazu, verdanken mehr als zehntausend Personen ihr Glück Eleazard
Bouffier.

 

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Wenn ich so sehe, wie ein einziger Mensch sich auf seine physischen und moralischen Kräfte
verlassend genügt, um aus einer Wüste ein Gelobtes Land zu machen, denke ich, dass die Menschheit
trotz allem bewundernswert ist. Um so etwas zu schaffen, braucht es dauerhafte Seelengrösse und
selbstlose Grosszügigkeit. Darum zolle ich diesem alten Bauern, der dieses Gott würdige Werk
erschaffen hat, allergrössten Respekt.

 

Eleazard Bouffier ist im Jahre 1947 im Altersheim von Banon friedlich entschlafen.

 

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